In 20 Jahren (Kurzgeschichte)

In den letzten Jahren war sein Leben irgendwie zum Stillstand gekommen. Nichts passierte mehr, nicht änderte sich mehr. Jeder Tag floss im selben öden Rhythmus dahin und nichts neues kam mehr hinzu. Die ganze Welt um Ihn herum bewegte, entwickelte sich, nur er bewegte sich nicht weiter. Ab und zu erzählten Ihm Freunde, Sie würden jetzt heiraten, oder hatten Ihr erstes Kind bekommen, wohl um Ihn daran zu erinnern, dass die Zeit für andere nicht stillstand. Nacht um Nacht lag er wach in seinem Bett und überlegte, was er denn tun sollte. Doch nichts fiel Ihm ein. Keine Aufgabe stellte sich Ihm in den Weg, keine Möglichkeit sich zu beweisen. Nur eine endlos lange Zeit dehnte sich vor Ihm aus, mit der er nichts anzufangen wusste. Und doch ließ Ihn sein Verstand nicht schlafen, lies Ihm keine Ruhe. Manchmal fragte er sich, ob er nicht schon gestorben war und in der düsteren Halle des Todes dahinvegetierte.

Also beschloss er eines Tages das erstbeste zu tun, was ihm einfiel, nur um etwas zu tun. Er begann zu joggen. Was sollte er mit der Zeit auch sonst anfangen? Wie er ausgerechnet auf die Idee mit dem Joggen gekommen war, konnte er sich selbst nicht erklären. Gerade aus dem Laufen hatte er sich sein Leben lang nichts gemacht und selbst das war noch eine Beschönigung. Er hatte es immer aus voller Seele gehasst. Doch es war… etwas. Etwas, das Ihn daran erinnerte, noch zu leben, wenn das Blut mächtig in seinen Adern pulsierte und die Lunge nach Luft rang.

Zuerst waren die Läufe kurz, aber mit den Wochen wurden die Strecken länger und der Schmerz geringer. Sein Körper gewöhnte sich an die Anstrengung und so sehr er sich auch selbst in dem Moment hasste, sobald er in die Laufschuhe schlüpfte, so zufrieden fühlte er sich nach dem Lauf. Auch seine Schlafprobleme wurden geringer.

Nach 3 Monaten war aus der Runde um den Block eine ausgewählte Strecke von mehreren Kilometern geworden. Raus auf die Bismarck-Gasse, dann quer über den John-F. Kennedy- Platz, in die Rommel-Allee, dann rechts in die Sokrates-Strasse und dann die fünfte links ab in die Judengasse. Er sann über die Namen der Straßen nach und dachte still bei sich, dass der zuständige für die Namensbenennung in der Bauabteilung der Stadt ein kleiner Scherzbold gewesen sein musste, alle diese illustren Persönlichkeiten in denselben paar Quadratkilometern zu versammeln.

Später bog er dann für gewöhnlich in die Retengasse ein und traf Suleiman dabei, wie er seine Dönerbude aufsperrte. Irgendwann hatte Ihn dann er Durst eines Tages dazu getrieben, bei Ihm anzuhalten und ein Wasser zu kaufen. Und wie es so läuft im Leben wurde daraus schnell eine kleine Freundschaft mit dem lustigen alten Araber, der so herrlich falsch Deutsch sprach durch seine Zahnlücken. Und sein Döner war auch nicht schlecht.

Schnell hatte sich ein Ritual etabliert. Wenn er joggte, dann joggte er am Dönerstand vorbei. Und wenn gerade nicht viel los war winkte Suleiman mit einer Plastikflasche frischen Wassers, woraufhin er seinen Lauf stoppte, ihm die Flasche „zum Sonderpreis“ abkaufte (wie der Araber so schön sagte) und dann ein bisschen mit Ihm tratschte.

So wurde aus einer einmaligen Sache eine Gewohnheit und bald eine Freundschaft. Sie sprachen über dies und das, wenig über Gott, doch dafür viel über die Welt. Suleiman verriet Ihm das Rezept für eine süße Nachspeise, welche eine Spezialität seines Landes war, unter einigen Beschwörungen, es nicht weiter zu geben. Er wollte sich erkenntlich zeigen und fragte Ihn, ob er ein Rezept für traditionelle deutsche Apfelrupfhauben haben möchte. Mißtrauisch hatte Ihn der Araber beeugt. Ob da etwa Schweinefleisch drin sei? Nein, hatte er gesagt, da sei gar kein Fleisch drin, worauf sich die Miene gleich wieder erhellt hatte und er sein herzhaftes Lachen ertönen lies.

„Aber was ist ‚Rupfhauben‘? Ich kennen Apfel, aber nicht Rupfhauben.“ Es war eine überraschend schwere Aufgabe, das Wort zu verständlich zu machen. Nach einer längeren Erörterung, was denn ‚rupfen‘ und ‚Hauben‘ bedeutet und einer abschließenden Abhandlung, dass die Apfelrupfhauben überraschenderweise nicht zerrupft werden, obwohl das Wort Rupfen darin vorkam fühlte er sich selbst ein bisschen dumm, nie so wirklich über dieses Wort seiner Muttersprache nachgedacht zu haben, während er wild gestikulierte.

Suleiman lachte wieder. „Weisst du, mein Freund, ich mag dich. Du bist guter Mann. Ich verrate dir Geheimnis. In 20 Jahren ganze Stadt gehört mir!“

Er konnte sich ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. „Dir gehört dann die ganze Stadt? Mit deiner Dönerbude? Da musst du aber noch ziemlich viele Döner verkaufen.“

„Nein mein Freund, du verstehst nicht! Ich bin bald mächtigster Mann von Stadt!“ Zwar lachte Suleiman noch immer, doch es lag etwas Schweres, Ernstes in seiner Stimme, was wiederum sein Interesse weckte.

„Wie kommst du denn darauf?“

Suleiman beugte sich vor uns seine Stimme senkte sich. Vorsichtig blickte der Araber nach links und rechts, als fürchtete er, dass Unbeteiligte etwas mitbekommen könnten. Er konnte nicht anders, als es Ihm nachzumachen, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, was denn eine so Geheimniskrämerei nötig machen würde. Doch dieses verschwörerische Verhalten, welches Suleiman mit solcher Ernsthaftigkeit betrieb, gab Ihm das Gefühl er würde sich des Verrats von Staatsgeheimnissen schuldig machen, sollte er nicht ebenfalls mitmachen. Er beugte sich nun ebenfalls vor, gespannt jener Dinge harrend, welche Ihn Suleiman im Vertrauen erzählen würde.

Dieser hielt nun die rechte Hand schirmend neben seinen Mund, als wäre selbst der kleinste Schall, wenn er denn entkäme zu einem Fremden, eine Gefahr für seinen großen Plan.

„Weißt du, mein Freund, ich habe 9 Kinder.“ Johannes ruckte leicht zurück und blinzelte, während er sein Kopf sich fast unmerklich schüttelte. Sollte das wirklich das große Geheimnis sein? Warum so eine Geheimnistuerei? Noch wartete er auf die Pointe, doch der Araber blickte Ihn nur erwartungsvoll an. Er blickte dem Araber noch einen Moment seine walnussbraunen Augen, bis er, eher aus Höflichkeit, antwortete:  „Gratuliere zu deinen Kindern, aber was hat das damit zu tun?“

Suleiman schüttelte den Kopf. „Du verstehst nicht. Ich habe 9 Söhne und 3 Töchter.“

Johann verschränkte die Arme und sah Ihn skeptisch an. Die Sache wurde immer wunderlicher. „Gerade hast du noch gesagt, du hast nur 9 Kinder? Und jetzt sind‘s 12!“

Suleiman lachte. „Ihr Deutsche seid lustig. Ich vergesse. Wir zählen nur Söhne. Töchter nutzen nicht viel, man kann nur Sie verheiraten. Aber sind gute Mädchen. Werden kriegen gute Männer. Ich werden gute Männer für Sie finden zu heiraten. Dann kommen Sie in Stadt und helfen meine Söhne.“ Er lachte nochmals lauthals sein tiefes, brummiges Lachen. „Ihr Deutsche seid ziemlich dumm. Arabische Frau macht 9 Kinder oder mehr. Deutsche Frau macht nur 2 Kinder. Ich arbeite hart, jeden Tag. Damit Kinder gehen können auf Gymnasium. Und in 20 Jahren sind meine Söhne Ärzte und Anwälte und Polizei. Und alle bleiben bei mir in die Stadt. In 20 Jahren, wenn du in Stadt Arzt brauchst triffst du mein Sohn. Wenn du Anwalt brauchst triffst du mein Sohn. Wenn du Polizei brauchst triffst du mein Sohn. Wenn du Rathaus, triffst du mein Sohn. In 20 Jahren bin ich mächtigster Mann von Stadt!“

Suleiman blickte Ihm tief in die Augen und auch er selbst wurde still. Sein Blick schweifte kurz ab auf die Blätter der kläglichen, kleinen Eiche, die man neben dem Dönerstand eingepflanzt hatte. Gemächlich glitten seine Augen über die Wellen einiger Eichenblätter, bevor er sich wieder an Suleiman wandte.

„Sag mal, wie alt sind eigentlich deine Töchter?“

 

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