Früchte der Arbeit (Kurzgeschichte)

Carlos lächelte. Heute war der große Tag. Endlich. Fast ein ganzes Jahr harter Entbehrungen, schweißtreibender Arbeit, genialer Einfälle und schneller Improvisationen lag hinter Ihm und all dies für die Firma. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie viele Stunden er zuhause verbracht hatte, sinnierend, nur um die Firma für die er seit 2 Jahren arbeitete an diesen Punkt zu bringen. Jetzt war es so weit und er konnte die Früchte seiner Tätigkeit genießen. Sein Arbeitgeber war Insolvent.
Nicht das Carlos ein rachsüchtiger Mensch war. Nein. Er mochte es nur nicht, wenn seine Arbeit nicht geschätzt wurde. So gesehen trug sein Chef die Schuld. Natürlich. Der Fisch stinkt ja bekanntlich vom Kopf her.
Als er sich bewarb wusste er nicht, dass es sich bei seinem Stuhl um den Schleudersitz des Betriebes handelte. Andererseits findet so etwas für gewöhnlich nicht in der Stellenbeschreibung Erwähnung. In den letzten 5 Jahren war der Platz von 6 Personen besetzt worden, wobei die letzten 3 gerade einmal ein halbes Jahr durchhielten. Es war die wunderbare Kombination mehrerer Faktoren, aufs trefflichste verquickt, wie er später von seinen Kollegen erfuhr. Fragmentarische Beobachtungen, doch in Ihrer Gesamtheit sehr aufschlussreich.
Der ursprüngliche Inhaber des Postens hatte sich entschlossen, seinen Skiurlaub nach einem missglückten Sprung 6 Fuß unter der Erde fortzuführen. Guter Rat war teuer und kompetenter Ersatz noch viel mehr. Für solche Extravaganzen mehr zu bezahlen sah der Chef jedoch keinen Grund. Also wurde eine wildfremde Person angeheuert, den Posten eines langjährigen Mitarbeiters auszufüllen, der als einziger im Betrieb Wissen um die Materie besaß. Wichtige Dinge aufzuschreiben war Ihm nie in den Sinn gekommen, wozu auch? Sonst kannte sich auch niemand mit seinem Aufgabengebiet aus, denn bei Ihm lief es ja immer von selbst.
Das Ergebnis war vorhersehbar. Jeder Nachfolger wurde auf den Posten gesetzt, ohne auch nur dem kleinsten Hauch einer Einweisung. Oder Hoffnung. Nun, ganz stimmte das nicht. Man bekam einen Zettel mit dem Passwort und dem Hinweis, die Türe kräftig zu zu ziehen, da diese sonst klemmte. Natürlich funktionierte das nicht. Die Fehler häuften sich, ebenso die cholerischen Anfälle des Chefs gegenüber dem Nachfolger, oder wie er diesen liebevoll zu nennen pflegte, dem inkompetenten Versager. Gerade, wenn also jemand sich eingearbeitet hatte, war dieser bereits nahe des Burnouts. Glücklicherweise trat dieser nie auf, da man die jeweilige Person für gewöhnlich zu diesem Zeitpunkt fristlos kündigte und einen neuen anheuerte. Der durfte sich dann durch die, auf dem zeitweilig unbesetzten Posten, aufgelaufene Arbeit durchkämpfen, während der Chef Ihn immer wieder von der Arbeit abhielt, um Ihm zur Kenntnis zu geben, wie unfähig er seie da er mit dem bisschen Arbeit nicht fertig werde.
So schleppte sich dieser Posten in dem Betrieb dahin wie ein verwundetes Tier, während die Aufträge, und damit das Arbeitspensum auf genanntem Platz sich verdreifachte. Natürlich war dies jedem klar. Außer der Chefetage. Also musste ein Neuling nun ungelernt an einem Tag die Menge schaffen, wie zwei andere, über Jahre eingearbeitete, Posten zusammen. Sein Chef half natürlich stets mit gutem Rat. Oft fragte er, ob eine Aufgabe, welche er 5 Minuten zuvor an Carlos delegiert hatte schon fertig sei. Wenn nun, wahrheitsgemäß die Antwort erfolgte, dass man noch nicht dazu gekommen seie, da man noch an Aufgabe X arbeite, welche er einem gegeben habe mit dem Vermerk dringend, so kam die Antwort „Sehen Sie, wenn Sie arbeiten würden, anstatt solche langen Reden zu schwingen, dann wären Sie schon fertig.“ Er betrachtete es als höchst wichtig, seine Mitarbeiter für solche Kommentare von Ihrem Arbeitsplatz in sein Büro zu delegieren.
Wobei delegieren das falsche Wort war. Technikaffin, wie es nur ein älterer Herr seien konnte, bevorzugte er es, einfach den Namen des betreffenden Mitarbeiters durch seine Türe in das Großraumbüro zu brüllen. Da Ihm die Sekunden, die ein Mitarbeiter brauchte, um aufzustehen und die maximal 10 Meter in sein Büro zurück zu legen zu lang dauerten, begann er nach jedem Schrei auf dem Telefon eine Nummer zu wählen, um mit jemand anderes über eine völlig andere Sache zu diskutieren, während er seinen Mitarbeiter minutenlang vor seinem Schreibtisch stehen lies.
Sollte jedoch tatsächlich sein potentieller Gesprächspartner den Frevel begehen, nicht erreichbar zu sein, so erklang unabwendbar das Grollen, dass er NIE jemanden ans Telefon bekäme. Gefolgt von einem oder mehreren spitzen Kommentaren gegen die Person vor Ihm. Der Mitarbeiter soll sich ja nicht zu wohl fühlen.
Der Punkt, an dem ein dunkler Gedanke begann, sich seinen Weg in die Realität zu reißen, kam, als Carlos‘ Freundin Ihn verließ. Seit er in dem Betrieb arbeitete sei er ungenießbar geworden. Irgendwie hatte sein Chef Wind davon bekommen, und überraschte Carlos wenige Tage später mit dem großartigen Kommentar, wenn er genau so viel Elan im Bett zeige, wie in der Arbeit, dann verstünde er, warum seine Freundin Ihn verlassen hatte. Er fand das unheimlich komisch.
Carlos entschloss sich, seinem Chef ebenfalls etwas unheimlich komisches angedeihen zu lassen. Natürlich. Er hätte auch kündigen können. Doch warum andere Applikanten dasselbe Schicksal erleiden lassen? Man war ja kein Unmensch.
Beschlossene Sache, doch wie sollte er starten? Kugelschreiber mit verschwindender Tinte, Furzkissen, alles Kinderkram, ohne nachwirkenden Effekt. Dann kam Ihm eine Idee. Der Wagen des Chefs. Ein teures Modell, europäischer Premiumhersteller. Zumindest, was den Preis anbetraf. Die Qualität ließ sich eher beschreiben mit „häufige Wartung nötig“. Dennoch liebte er Ihn. Schon ein Kratzer im Lack würde, nun ja, explosive Folgen haben. Andererseits wollte er nicht noch mehr Geschrei in seiner Arbeit erdulden. Als Mann des Friedens besorgte er sich stattdessen eine Ventilkappe desselben Modells, wie Sie auf dem Wagen seines Chefs montiert waren. Ihr Sinn bestand darin, zu verhindern, dass versehentlich irgendein unbestimmtes Objekt das Ventil öffnete und Luft entweichen lies. Dumm nur, wenn ein freundlicher Zeitgenosse einen kleinen Dorn in selbige Kappe implementierte. Eine kleine Bastelarbeit, äußerlich nicht zu erkennen, doch von nicht zu unterschätzender Wirkung im Laufe einiger Stunden.
Ein kurzer Gang nach draußen, in Verbindung einem offenem Schnürsenkel, welcher natürlich sofort gebunden werden musste, auch wenn man dafür kurz neben dem Wagen des Chefs untertauchte war ausreichend. Am nächsten Tag gab es einen lebhaften Dialog darüber, wie er sich einen Nagel eingefahren haben musste, da sein Reifen in der Garage über Nacht alle Luft verloren hatte und er gezwungen war, ein Taxi zu nutzen, während seine Werkstatt sich um den Platten kümmern würde. Unerklärlicherweise fand sich keine Beschädigung, also stand Nachmittags der Wagen wieder in vollem Glanze vor dem Betrieb mit frisch aufgepumptem Reifen. So wiederholte sich das Spiel von Tag zu Tag, bis nach einer Woche der verzweifelte Handwerker, unfähig, das Problem zu finden, einen komplett neuen Reifen montierte. Schlag das Pferd, du triffst den Reiter. So heißt es doch.
Faszinierend wie selbst der kleinste Schritt eine Bewegung in Gang setzen konnte. Ideen sprudelten, bis zu dem Punkt, an dem er in einem Block Buch über Sie führen musste. Mal verschwanden wichtige Briefe im Reißwolf, an anderen Tagen entfernte er Teile einer Akte und steckte Sie in eine andere. Natürlich nicht die seinen. Er war ja nicht verrückt. Stattdessen genoss er den verwirrten Blick seiner Kollegen, wenn diese zu Unrecht eine Anfuhr des Chefs ertragen mussten.
Auch die Küche war ein wunderbares Betätigungsfeld. Wo Menschen aufeinander treffen, da menschelt es halt. Seine Kollegin liebte Joghurt, also stand immer ein Becher bereit für Mittag. Diesen zu stehlen wäre einfach unfair gewesen, weshalb er ab und zu einen Becher aufriss, diesen bis zur Hälfte auslöffelte und Ihn wieder zurück in den Kühlschrank stellte. Dafür verfeinerte er hin und wieder die Salate seines Fitness versessenen Kollegen mit einem guten Schuss Essig. Auch am Geld für die Getränkekasse zu sparen führte vorhersehbarerweise zu langen Diskussionen am Monatsende und einer sich stetig verschlechternden Laune der Büroangehörigen.
Der Gestank im Büro half auch nicht gerade. Aber natürlich musste es stinken. Das war die logische Konsequenz, wenn man nach Feierabend eine tote Maus in der Lüftungsanlage platzierte. Nun, geteiltes Leid ist halbes Leid, so sagt man. Ausserdem hatten die „liebevollen Geschenke“ seiner Katze so doch endlich eine sinnvolle Anwendung gefunden.
So wurden Eukalyptusspraydosen zu einem täglichen Gebrauchsmittel im Büro. Natürlich half er seinen Kollegen in Ihrem Leiden gerne aus. Wenn Sie den Gestank so dringend vertreiben wollten, dann war es nur sinnvoll, das Ventil der Dose dahingehend zu optimieren, dass diese beim nächsten Druck auf den Sprühknopf nicht mehr aufhörte, Ihren Inhalt zu verteilen, bis der letzte Rest Eukalyptusduft entwichen war. Leider schienen seine Kollegen diese ehrenswerte, anonyme Geste nicht zu schätzen und warfen die Dose nach einigen wüsten Flüchen durch das offene Fenster auf den Parkplatz, wo diese lustig umhersprang.
Überhaupt. Der Geruchssinn war schon etwas faszinierendes, man blendete diesen im alltäglichen Einerlei gerne aus, nur um Ihn umso intensiver zu spüren zu bekommen, sobald er durch eine Kleinigkeit, wie; sagen wir mal; dem Inhalt eines Fläschchens Baldrian im Luftfilter des Kühlergrills, aufgeschreckt wurde.
Da zu diesem Zeitpunkt bereits einige Mitarbeiter, frustriert ob der Geschehnisse und der sich verschärfenden Probleme, welche in Form von Verzögerungen und falschen Bestellungen in den Betrieb schwappten, kündigten, übernahm Carlos gerne noch ein paar weitere Aufgaben, welche sein Chef Ihm gnädig übereignete. Da er jetzt täglich gratis Überstunden schob, um dem Betrieb zu helfen, wurde Ihm der Generalschlüssel übergeben, damit er, wo er doch als letzter den Betrieb verlies, diesen auch zusperren konnte. Glücklicherweise ließ sich mit diesem auch die Produktionshalle aufschließen, was seinen Wirkungsbereich um einiges vergrößerte.
So viele Maschinen und Abläufe, welche sich Ihm nun erschlossen, für das kreative Wirken seiner Hände! Elegante Lösungen waren gefordert. Einen Draht aus dem Sicherungskasten einer mehrere Millionen teuren Produktionsanlage herauszuziehen, das konnte jeder. Viel kunstvoller war es jedoch, zwei Drähte zu entfernen, und vertauscht wieder einzulöten. Ein wunderbar reproduzierbarer Fehler war die Folge, welcher für einen wochenlangen Stillstand der Maschine sorgte und für gewöhnlich im Austausch eines kompletten Elektronikmodules gipfelte, was nochmals ein stattliches Sümmchen auf die bereits exorbitant hohe Rechnung schlug.
Auch fiel Ihm bald die nette Geste des Staplerfahrers auf, welcher den Schlüssel seines elektrisch betriebenen Gefährtes meist im Zündschloss stecken lies. Diese überaus freundliche Tat honorierend drehte er nun ab und zu den Schlüssel, um die Bordelektronik wieder mit Strom zu versorgen, was über den Verlauf einer Nacht die Batterien leerte und es unmöglich machte, am nächsten Vormittage irgendeine logistische Leistung zu vollbringen, bis diese wieder aufgeladen worden waren. Auch wurde inzwischen sehr viel Zeit darauf verwendet, nach verschwundenem Werkzeug zu suchen. Oft tauchten diese zwar an anderen Arbeitsplätzen wieder auf, befeuerten jedoch wüste Diskussionen über die Unverschämtheit, sich Dinge zu borgen, ohne zu fragen und dies dann auch noch abstreiten zu wollen. Manches blieb jedoch unerklärlicherweise verschwunden, während Carlos fasziniert feststellte, wie viel andere Menschen bereit waren für gutes, gebrauchtes Werkzeug zu bezahlen.
Mit der Zeit wurde Ihm jedoch immer klarer, wie weise jene waren, welche den Spruch, die Feder seie mächtiger als das Schwert geprägt hatten. Ein kleines Wort zur rechten Zeit, bereitet manche Übelkeit. Besonders von Vorteil war die überwältigende Menge von Frauen an seinem Arbeitsplatz. Ein unauffällig in den Raum geworfener Halbsatz mit abseitigem Inhalt, eine nur angedeutete Abfälligkeit, ein kleines Gerücht, all dies wandelte sich in den Köpfen seiner Kollegen, bis es, verdreht, verzerrt und überspitzt, nur noch das Schlechteste aussagte.
Man musste nicht einmal zu sehr nachhelfen, das meiste erledigten seine Kollegen selbst. Wie bei jener königlichen Gelegenheit, welche sich Ihm bei einem Einkauf bot. Als er aus den Augenwinkeln eine Kollegin hinter sich sah, worauf er prompt einige Andeutungen darüber fallen lies, wie es Ihn besorge, dass eine weitere Kollegin immer hinter deren Rücken über eben jene herziehe, ob diese sich keinen Kamm für die Haare unter Ihren Achseln leisten könne. Sie hätte diesen doch so nötig. Jene, liberal eingestellt und ökologisch-feministisch geprägt, redete von da an kein Wort mehr mit der angeblichen Schmäherin, spukte Ihr jedoch in scheinbar unbeobachteten Momenten in die Kaffeetasse.
Streit wurde zur Tagesordnung im Büro, wenn die Leute sich denn nicht gerade schweigend gegenüber saßen. Ab und zu ergriff eine von Ihnen nach einem Disput heulend die Flucht auf die Toilette, begleitet von der einen Hälfte des Personals, während die andere Hälfte über die Abwesenden herzog. Nicht das die Lokus-Gruppe auch nur einen Deut besser gewesen wäre.
Die Qualität sank, Aufträge blieben aus, Lohnkürzungen und Entlassungen folgten, während die kompetentesten Angestellten sich auf andere Firmen bewarben und die Bewerbungen über den Firmendrucker kopierten. Immer mehr Werkzeug verschwand, da sich die restliche Belegschaft, durch das Vorbild eines anonymen Pioniers, darin bestätigt sahen, kein Stück ehrenhafter als Ihre Kollegen sein zu müssen. Die letzten Wochen vor der Verkündung der Insolvenz war sein Boss, sonst immer so cholerisch und selbstgefällig, plötzlich sehr still geworden. Geduckt huschte er durch die Gänge, ohne seinen Arbeitern in die Augen zu sehen und wenn jemand an seine halboffene Bürotür klopfte zuckte er zusammen und starrte den Eindringling mit glasigen Augen an, wie ein Verbrecher, welcher unvermittelt der Anwesenheit einer Polizeieskorte gewahr wurde.
Dann, mit einem Mal, war es vorbei, und obwohl niemand wusste, warum es genau an diesem Tag geschah, und nicht früher oder später, so hatte doch jeder, bis auf die Einfältigsten, das Unausweichliche bereits geahnt.
Inzwischen ging sein Chef durch die Reihen und schüttelte jedem seiner ehemaligen Untergebenen ein letztes Mal die Hand. Carlos verdrängte die Erinnerungen, und kurz darauf stand er vor Ihm. Die letzten Monate hatten sichtliche Spuren hinterlassen. Sein blasses Gesicht war eingefallen und sein Lächeln nur eine Farce. Die Schultern hingen schlapp herab, und er schaffte es kaum, seinen, von schwarzen Ringen untermalten, Blick bis zu Carlos‘ Augen zu erheben. Schnell wandte sein ehemaliger Chef sich ab, nur um kurz in der Bewegung inne zu halten. Ein weiteres Mal drehte er sich zu Carlos um und, in einer unerwarteten Geste, klopfte Ihm auf die Schulter.
„Ich weiß, wir hatten unsere Differenzen, aber ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie bis zum bitteren Ende Ihr Bestes gegeben haben, das schätze ich wirklich.“

Ein Gedanke zu „Früchte der Arbeit (Kurzgeschichte)“

  1. Mitten aus dem Leben, einfach herrlich. Vor allem die Stelle mit „wenn er im Bett genau so viel Elan zeige, wie bei der Arbeit…“…

    Mir kam beim Lesen der BOFH in den Sinn.
    Fortsetzung erwünscht :)

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