Wozu noch schreiben lernen?

Vor kurzem hatte ich ein erhellenden Gespräch mit einem Freund. Ich erzählte ihm, dass ich daran arbeite, meine Schreibschrift zu verbessern, worauf er nur entgegnete, dass das eine mutige Sache sei, wo doch in 10 bis 20 Jahren niemand mehr ohne Tastatur schreiben werde.
Studierte Menschen sollte man ja nicht einfach ignorieren, also bleibt die Frage: Hat er recht?

Auf den ersten Blick scheint es ja wirklich so. Emails, Chatprogramme wie Whatsapp und Facebook haben den Brief obsolet gemacht und wenn jemand heute noch Briefe schreibt, dann nur am PC. Notizen werden zunehmend im Smartphone und der Cloud abgespeichert und sogar in den Schulen sollen bald Tablets und Tastaturen Block und Stift ablösen, wenn es nach den Politikern geht. Die angeblich so rückständigen Schulen hingegen haben schon vor Jahrzehnten auf diese Entwicklung reagiert und bringen Jahr um Jahr vereinfachtere Schreibsysteme für die Schüler heraus. Jedes simpler als das Vorherige mit einer einzigen Gemeinsamkeit. Sie sind alle gleich hässlich.

Ausserdem ist das Schreiben per Hand doch viel langsamer und geht leicht verloren. Abtippen muss man es sowieso später für den allmächtigen Computer, wenn man die schnell hingeschmierten Kringel überhaupt noch entziffern kann.
Und wer hat heute überhaupt noch Papier und Stift bei sich, ausser einigen unverbesserlichen Sonderlingen?

Doch halt, ausgerechnet in einem Eck des Internets regt sich Widerst

and. Füllfederhalter werden genüsslich in Youtube-Videos zelebriert mit teilweise bis zu 100.000 Abonennten. Immer mehr Leute tauschen sich aus über verschiedenste Schreibsysteme, geschwungen, kantig, kompliziert, doch Hauptsache wunderschön. Spencerian, Copperplate, selbst die alte deutsche Karenzschrift wird von manchen wiederentdeckt.
Moleskine Notizbücher verkaufen besser denn je und immer mehr Blogs, Vlogs und wie Sie alle heißen spielen sich mit Ihnen und prahlen im Internet mit den schönsten Exemplaren. Handgebunden, Spezialpapier oder gar die Seiten erst mit verdünnter Tinte eingefärbt, bevor man auf Ihnen schrieb, was zu träumerischen Wölkchen auf dem Papier führt.
Das handschriftliche Bulletjournal ist einer der heißesten Trends von 2017 und bleibt es scheinbar auch in 2018.

Wo kommt diese Bewegung denn her, wenn die Zeit der Handschrift vorbei ist? Etwa nur ein letztes Aufbäumen? Beileibe nicht. Denn Handschrift hat viele Vorteile.

Es beginnt schon mit der Haptik. Ein wertiges Smartphone liegt zwar gut in der Hand, aber das Gefühl von echtem Papier, das Blättern, das Gefühl, wenn Finger und Stift eins werden, um über das Papier zu gleiten sind einfach unnachahmlich. Sie lachen vielleicht über die Wortwahl, aber inzwischen haben Wissenschaftler festgestellt, dass die Werkzeuge, die wir in die Hand nehmen für unser Gehirn zu einer Erweiterung der Hand, quasi zu einem weiterem Finger werden. Und darum fällt es vielen auch so schwer, sich vom Smartphone zu trennen. Denn, wenn man es dann doch endlich beiseite legt, entstehen im Gehirn Phantomschmerzen, als hätte man einen Finger verloren. Haptik ist nicht zu unterschätzen.

Wo wir von Wissenschaft reden. Inzwischen wurde ebenso nachgewiesen, dass man besser und schneller lernt, wenn man mit einem Stift schreibt, anstatt mit einer Tastatur. Einfach, weil das Gehirn dazu gezwungen ist, sich weit intensiver mit dem Stoff zu beschäftigen. Wenn Sie also einen Blick in moderne Universitäten werfen und die Wände aus Laptops und Tablets sehen, auf denen die Studenten tippen dürfen Sie sich nicht wundern, warum die Leistungen dieser seit Jahren schlechter werden.

Ganz zu schweigen von der Abhängigkeit. Wer nicht schreiben kann, der ist auf Tastaturen und Touchscreens angewiesen. In unseren Städten ist das natürlich kein Problem, abgesehen von den horrenden Kosten für ein Gerät, welches in 2-4 Jahren Elektroschrott ist und das vielfache von Stift und Block kostet. Wer reist hat noch mehr Probleme. In der Natur gibt es keine Steckdose, Solarpanele und klobige Powerbanks trägt auch nicht jeder mit sich herum und spätestens, wenn es einem runterfällt kann man schnell wieder gezwungen sein, auf analoge Medien umzusteigen.
Das sollte man sowieso tun, wenn man in schlechten Gegenden unterwegs ist. Denn Leute, die Ihr teures Smartphone in falscher Gesellschaft herausziehen dürfen sich nicht wundern, wenn Sie plötzlich vor die Wahl „Smartphone weg oder Messer in Bauch & Smartphone weg“ gestellt werden. Gilt der Technikzombie, der nur stur auf sein Gerät blickt und die Umgebung nicht beachtet doch als einfaches Opfer. Das muss nicht unbedingt Myanmar sein, gibt es doch inzwischen in fast jedem Land und fast jeder Stadt inzwischen traurigerweise No-Go Zonen.

Und wenn man schon von Ablenkung spricht. Im Gegensatz zu einem Smartphone oder PC ist die Ablenkung bei einem Stück weißem (oder Sephia für die Connoisseur) Papier nicht einen Fingertipp entfernt. Das Papier kümmert sich nicht um die eigene Befindlichkeit und starrt einen nur weiß an, bis man etwas aus sich herausholt, um damit diese Leere zu füllen. Das macht es natürlich schwer für Menschen, die sich über Jahre hinweg angewöhnt haben, beim kleinsten Anflug von Langeweile und der Gefahr, plötzlich mit den eigenen Gedanken alleine in einem Raum zu sein, Facebook, Youtube und Instagramm öffnen.

Aber wieder zurück zu erfreulicherem. Eine schöne Handschrift macht freude. Sich selbst und anderen. Man selbst freut sich bei dem intimen Kontakt mit dem Papier über jedes gelungene Zeichen. Und noch viel mehr freut sich der Empfänger eines handschriftlichen Briefes. Zeigt der doch, dass einem die Person wirklich etwas bedeutet. Ansonsten hätte man sich nicht die Umstände gemacht. Ein kleines, handschriftliches Dankeskärtchen erzeugt mehr Freude, als tausend gedruckte Briefe. Ich habe auch schon oft in meinem Leben diverse Bücher verschenkt an Freunde. Dankbar sind Sie natürlich alle.
Aber erst, seitdem ich eine kleine Widmung an dem Empfänger auf die erste Seite schreibe, umarmen Sie mich auch dafür.

Und natürlich, solche Sachen werden ewig aufgehoben. Wer weiß schon noch, was man über Whatsapp letzte Woche geschrieben hat? Die alten Liebesbriefe hingegen, welche Großvater Großmutter schrieb bleiben auch nach 100 Jahren noch ein wohlgehüteter Familienschatz.

Ein anderes Thema ist die Sicherheit. Was in einem Notizbuch steht kann nur lesen, wer es auch tatsächlich in der Hand hält. Das klingt erstmal profan und sehr sinnlos. Sobald es irgendwo liegt kann es ja schließlich jeder lesen. Aber mit der Digitaltechnik hat es eine neue Dimension bekommen. Denn was auf einem Gerät mit Internetverbindung ist kann von JEDEM ausgelesen werden, weltweit und vollkommen unbemerkt. Noch viel einfacher wird es mit der Cloud, dem permanenten Aufbewahren von Daten im Internet. Da braucht man nur ein Passwort oder eine kleine Schwäche im Programm und schon sind die Daten offen für alle. Dem Notizheft muss der Spion erst physisch habhaft werden.
Klar, wer nichts zu verbergen hat, bla bla bla. Aber ob man wirklich glücklich ist zu wissen, dass potentiell jeder den Inhalt des Tagebuchs lesen kann oder die Unterlagen zu einem Projekt, einer Erfindung, als wenn man Sie zuhause an die Türen der Kirche genagelt hätte ist etwas ganz anderes.
Oder warum glauben Sie, dass Geheimdienstmitarbeiter gerne die Webcams Ihrer Laptops abkleben?

Ein anderer Vorteil, besonders für Autoren, ist der Zwang zur Prägnanz. Wie jemand mal so treffend formulierte ist ein Buch nicht fertig, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern wenn man nicht mehr wegstreichen kann. Handschrift ist anstrengender und langsamer als Tastatur. Das zwingt dazu, nur das wichtigste niederzuschreiben. Die Botschaft wird so klarer und stärker.
Deswegen werden die Bücher heute immer dicker und dicker und zugleich der Inhalt immer schmaler und schmaler.
Zum anderen ist man durch das Abtippen gezwungen, den Text nochmals zu lesen und zu redigieren, bevor man Ihn auf die Verlegerwelt loslässt. Was die Chance auf einen Vertrag doch erheblich steigert.

Oder wollten Sie schon mal abspannen und meditieren war Ihnen zu anstrengend? Dann sollte man es doch mal mit dem Schreiben mit Papier und Stift versuchen. Schreiben ist immer noch weit spannender als nur dazusitzen und an nichts zu denken, aber nach einer halben Stunde fühlt man sich wie ein neuer Mensch. Gerade, wenn man sich selbst mit einer schönen Schrift erfreuen kann.

Und schlussendlich ist es einfacher, die alten analogen Notizen durchzugehen. Trotz Volltextsuche tendieren Dateien auf Festplatten zu verschwinden, wenn man kein rigides Ordnungssystem hat. Schon manche schnell gespeicherte Datei verschwand in den endlosen Tiefen des PCs und musste erst mit viel Suchaufwand wie ein Schatz gehoben werden.

Vorteile gibt es also viele. Natürlich wird deswegen niemand seine elektronischen Geräte zum Fenster hinausschleudern und fortan nur noch mit Füllfederhalter und Büttenpapier zu Werke gehen. Das wäre auch gar nicht mehr möglich. Vieles lässt sich nur noch online erledigen und überhaupt ist durch Word und Drucker heute viel zu viel Papierkram unterwegs, als dass man dem noch mit Stift und Papier Herr werden könnte. Es würde einfach zu lange dauern. In dieser Hinsicht hat mein Freund also recht, denn aus dem Alltagseinerlei ist die Handschrift tatsächlich inzwischen fast komplett verschwunden.
Die Digitalisierung scheint jedoch einen paradoxen Effekt gehabt zu haben. Da Internet und Tastatur die Handschrift im Alltagsleben weitestgehend verdrängt hat, wurde Sie auch von dessen Fesseln befreit und schwingt sich langsam wieder zu der Kunst auf, die Sie vor hunderten von Jahren war. Von Dankesschreiben über Notizen und Tagebüchern bis hin zu Widmungen lebt die Schönschrift wieder auf. Lieber unvollkommene Schriftstücke als digitale Perfektion. Digital für das Dröge, analog für das Schöne und Wichtige.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert